Fitnesstraining zum Zentimeterwahn

Von Jens Meyer-Odewald

Hamburg - Du japst kläglich auf dem Laufband, hängst schwitzend in einer Ruderboot-Attrappe und jammerst hundserbärmlich in den Krallen diverser Folterinstrumente. Waren früher Schankwirtschaften dein zweites Zuhause, verbringst du die Freizeit nun im Fitnesscenter. Und das alles, um auf dem Weg vom Mammutwanst zur Wespentaille ein paar Zentimeter weiter zu kommen. Was noch einem Wackelpudding ähnelt, soll bald einem Waschbrett gleichen.

Das ist gesund und gut, vor allem entspricht es dem aktuellen Schönheitsideal: Fett ist pfui! Nicht ganz ohne Neid beobachtest du aus den Augenwinkeln muskulöse Typen, die ihre geölten Muckys tanzen lassen. Einer betrachtet selbstverliebt das eigene Spiegelbild, zupft zufrieden am Bizeps und stapft schließlich stolz mit einer muskulösen Maid davon. Auf zum fröhlichen Möhrenraspeln!

Wenns bloß dabei bliebe. Mehr als 100 000 Jugendliche hierzulande schlucken muskelbildende Präparate, von den Erwachsenen ganz zu schweigen: Mit der Spritze an die Spitze! Eiweißkonzentrate können harmlos sein, Anabolika geben den Rest. Jüngst zu sehen bei der Damen-Bodybuilding-WM in Tschechien und bei den Asien-Spielen in Südkorea. Wie aus dem Schreckenskabinett "Mädels, Monster, Mutationen" präsentierten sich dort teilweise muskelbepackte Mumien mit steinharten Gesichtern. Zum Fürchten geformt - wie gewiss viele finden. Eine Stärkung der Lachmuskeln, sagen andere.

Gut für diese Damen und Herren, wenn sie sich wohl fühlen. Bekanntlich lässt sich über Geschmack nicht streiten: Jedem das Seine. Das gilt dann aber bitte auch für alle. Die Maße sind eben nicht das Maß aller Dinge. Und Mittelmaß muss nicht immer schlecht sein. In der Schankwirtschaft wie im Fitnesscenter.

erschienen am 8. Okt 2002 in Aus aller Welt im Abendblatt.de